Hinduismus
ab 500 v. Chr.
Aus der vedischen Religion entstandene eigene Richtung, der mit circa 80 Prozent die Mehrheit der indischen Bevölkerung angehört und die darüber hinaus in weiteren Teilen der Welt verbreitet ist, u. a. in Nepal und Bali. Das persische Wort Hindu wurde von Sanskrit saindhava; indisch sindhu („Fluss“ oder genauer der Indus) abgeleitet und bezeichnete im 5. Jahrhundert v. Chr. die Bewohner jenes Landes nach seinem Fluss, dem Indus. Die Hindus bezeichnen sich selbst als „jene, die an die Veden glauben“ (siehe Veda) oder als „jene, die den Weg (Dharma) der vier Klassen (Warnas) und Lebensstadien (Ashramas) befolgen“.
Die Veränderung, die sich seit der Vedischen Zeit(1300-1000 v.Chr.) vollzog, tritt am augenfälligsten in der Zunahme der Götterwelt in Erscheinung. Zwar werden vedische Götter, wie Agni, Mitra, Varuna, Soma noch verehrt, aber sie sind durch persönliche Gestalten immer mehr in den Hintergrund gerückt worden. Das ursprüngliche Pantheon (Oberster Ort, Gericht) wurde durch neue persönliche Götter bestückt.
Die beiden für die Folgezeit zentralen Neuerungen sind die Einsamkeits- oder Alleinheitslehre verbunden mit dem Erlösungsgedanken und die Lehre von der Wiedergeburt in einer neuen Gestalt, die aus den im früheren Leben vollbrachten Taten resultiert.
Der Hinduismus ist eine der bedeutendsten Weltreligionen, nicht nur was die Zahl seiner Anhänger betrifft (ca. 900 Millionen), sondern auch aufgrund des großen Einflusses, den er seit etwa 300 v. Chr., während seiner langen Entwicklungsgeschichte, auf die vielen anderen Religionen ausübte. Der Hinduismus, der in hohem Maße dazu neigt, fremde Elemente aufzunehmen, wurde seinerseits von diesen unterschiedlichen Religionen beeinflusst, was zum größten Teil zu seinem ausgeprägten Synkretismus, d. h. zu der Vielzahl von Glaubensformen und Praktiken, führte. Neben der hinduistischen Lehre führten insbesondere die geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Indien dazu, dass sich der Hinduismus zu einem sozialen und religiösen System entwickelte, das alle Aspekte des menschlichen Lebens bestimmt.
Da die Schriften des Hinduismus mehr von den Taten der Menschen als von ihrem Denken handeln, findet man, obwohl es nur wenige Praktiken und Glaubensformen gibt, die von allen ausgeübt werden, eine weitaus größere Übereinstimmung im Verhalten der Hindus als in ihrem Glauben. Neben der Rezitation der Gayatri-Hymne bei Morgengrauen gibt es keine festgelegten oder vorgeschriebenen Gebete. Die meisten Hindus verehren Shiva, Vishnu oder die weibliche Gottheit Devi. Darüber hinaus werden von Dörfern und einzelnen Familien Hunderte von kleineren lokalen Gottheiten angebetet. Es gibt einige wenige Praktiken, die bei fast allen Hindus üblich sind: die Hochachtung gegenüber ihren Priestern, den Brahmasamadsch, und die Verehrung der Kuh, das Verbot Fleisch, insbesondere Rindfleisch, zu verzehren sowie die Eheschließung innerhalb der Kaste (Jati), wobei die Hoffnung auf männliche Nachkommen vorherrscht. Neben der Hierarchie des Gesellschaftssystems, die untrennbar mit der Religion verbunden ist und jeder Person ihren Platz im einheitlichen Gefüge zuweist, gibt es im Hinduismus weder ein Lehrgebäude noch die Hierarchie einer religiösen Institution.
Die höchste kanonische Autorität aller Hindus ist die Vedanta (Abschluss der Veden). Um 600 v. Chr. begann die Entstehung der ersten Schriften, der Upanishaden, jene mystisch-philosophischen Texte über den Sinn des Lebens und das Wesen des Universums. Um 400 n.Chr. war dann das Gesamtwerk zur Vedanta vollendet.
In den Erzählungen dieser Texte ist gleichzeitig eine komplexe Kosmologie enthalten. Die Hindus betrachten das Universum als große, geschlossene Sphäre, als kosmisches Ei, das zahlreiche konzentrische Himmel, Höllen, Meere und Erdteile enthält und in deren Mittelpunkt sich Indien befindet. Vom goldenen Zeitalter bzw. Krita-Yuga ausgehend, gelangt man über zwei Zwischenperioden, geprägt vom fortschreitenden Verfall der Güte, zur Gegenwart bzw. dem Kali-Yuga. Am Ende jedes Kali-Yugas wird die Welt durch Feuer und Flut vernichtet, und ein neues goldenes Zeitalter bricht an. Das menschliche Leiden ist gleichfalls einem Zyklus unterworfen: Nach dem Tod verlässt die Seele den Körper und wird im Körper eines anderen Menschen, eines Tieres, einer Pflanze oder eines Minerals wieder geboren. Diese endlose Kette von Leben und Wiedergeburten wird Samsara genannt (Seelenwanderung). Das Schicksal des Menschen in dem neuen Leben wird dabei von seinen in den vorhergehenden Leben angesammelten guten oder bösen Taten, dem Karma, bestimmt. Die Hindus glauben daran, dass das Karma durch Buße und Rituale aufgearbeitet werden kann und dass der Verzicht auf weltliches Begehren zur Erlösung (Moksha) aus dem ewigen Kreislauf der Geburten, dem Samsara, führt.
Die Hindus können dementsprechend in zwei Gruppen unterteilt werden: diejenigen, die nach der heiligen und weltlichen Belohnung (Gesundheit, Wohlstand, Nachkommen sowie einer vorteilhaften Wiedergeburt) in der Welt suchen und in jene, die nach Erlösung von der Welt suchen. Die Grundsätze des ersten Weges, die auf die Veden zurückgehen, werden heute vom Tempelhinduismus, von der Religion der Brahmanen und vom Kastensystem vertreten. Der zweite Weg, der in den Upanishaden vorgeschrieben wird, ist nicht nur Hauptziel der Entsagungskulte (Sannyasa), sondern auch das Ideal der meisten Hindus.
Die weltliche Richtung des Hinduismus wurde ursprünglich von drei Veden geprägt, von drei Gesellschaftsklassen (Varnas), drei Lebensabschnitten (Ashramas) und den drei Zielen der Männer (Purusharthas), wobei die Ziele oder Bedürfnisse der Frauen in den alten Texten selten erwähnt werden. Den ersten drei Veden wurde eine vierte, die Atharvaveda, hinzugefügt. Die ersten drei Klassen (Brahmanen oder Priester, Kshatriyas oder Krieger und die Vaishyas oder gemeines Volk) wurden von der Dreiteilung der antiken römischen und griechischen Gesellschaft abgeleitet. Den drei Gesellschaftsklassen wurde die der Shudras oder Knechte hinzugefügt, nachdem sich die Indogermanen im Pandschab niederließen, von wo aus sie das Tal des Ganges besiedelten. Die drei ursprünglichen Ashramas umfassten das keusche Leben der Brahmanenschüler (Brahmatscharya), das Leben als Hausvater (Grihastha) und das Leben als Waldeinsiedler (Vanaprastha). Außerdem hatten sie angeblich drei Schulden zu begleichen: das Studium der Veden, das sie den Weisen schuldeten, einen Sohn, den sie den Ahnen schuldeten, sowie die Opfer, die sie den Göttern schuldeten. Die drei Ziele waren Artha (materieller Erfolg), Dharma (rechtes Handeln, gemäß der sittlichen Gebote sowie den Pflichten der Kaste) und Kama (sinnliche Freuden). Kurz nach Entstehung der ersten Upanishaden und zur Zeit des Aufkommens des Buddhismus im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde ein viertes Ashrama und das entsprechende vierte Ziel hinzugefügt: der Entsager (Sannyasi), dessen Ziel die Erlösung (Moksha) von allen anderen Lebensabschnitten, Zielen und Schulden ist.
Für jede dieser beiden Lebensarten eines Hindus wurden eigene sich gegenseitig beeinflussende metaphysische und gesellschaftliche Systeme entwickelt. Das Kastensystem und die ihm zugrunde liegende Philosophie des Svadharma oder des „eigenen Dharma“ entwickelten sich innerhalb des weltlichen Hinduismus. Das Svadharma besagt, dass der Mensch geboren wird, um eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, eine bestimmte Person zu heiraten, bestimmte Nahrung aufzunehmen und Kinder zu zeugen oder zu gebären, die dann ihrerseits in gleichem Sinn leben. Auch besagt es, dass es besser sei, sein eigenes Dharma zu erfüllen als das von anderen, auch wenn das eigene Dharma minderwertig und verwerflich sei wie jenes der Paria. Die Paria werden auch „Unberührbare“ genannt, da schon ihre bloße Anwesenheit den Hindu, der einer anderen Kaste angehört, beflecken könnte. Das oberste Ziel der weltlichen männlichen Hindu ist, einen Sohn zu zeugen und großzuziehen, der dann den Ahnen Opfer darbringen wird (die Shraddha-Zeremonie). Der zweite Weg des Hinduismus, der der Entsagung, stützt sich auf die Philosophie der Upanishaden von der Einheit der individuellen Seele, dem Atman, mit Brahman, der universellen Weltseele oder Gott. Das Erkennen dieser Einheit gilt als ausreichend, um den Hindu von einer Wiedergeburt zu erlösen. Dieser Anschauung zufolge könne nichts die Erlösung mehr beeinträchtigen als die Geburt eines Kindes. Der weltliche Hinduismus hat viele Ziele und Ideale von dem Hinduismus der Entsagung übernommen, insbesondere die Idee vom ewigen Dharma, dem Sanatana Dharma. Dieses ewige Dharma ist ein absolutes und allgemeines ethisches Gesetz, das angeblich alle sekundären, bedingten und besonderen Dharmas umfasst und gleichzeitig transzendiert. Der wichtigste Grundsatz des Sanatana Dharma (Ewige Religion) ist für alle Hindus das Ahimsa, das Gebot, keine Lebewesen zu töten, aus dem der Vegetarismus folgt. Dieser Grundsatz verhindert jedoch nicht die Gewaltanwendung gegen Mensch und Tier bzw. das Blutopfer in den Tempeln.
Neben dem Sanatana Dharma wurden noch zahlreiche weitere Versuche unternommen, die beiden Richtungen des Hinduismus miteinander auszusöhnen. Das religiös-philosophische Lehrgedicht Bhagavadgita beschreibt drei Pfade zur religiösen Vervollkommnung. Dem Pfad der Taten oder des Karma, das sich hier auf Opfer und religiöse Handlungen bezieht, und dem Pfad der Erkenntnis oder Jnana, der Meditation, wurde ein vermittelnder dritter Pfad hinzugefügt, und zwar jener der leidenschaftlichen Hingabe an Gott oder Bhakti. Es ist ein religiöses Ideal, das die anderen beiden Ideale verbindet und gleichzeitig über ihnen steht. In allgemeiner Form kann Bhakti sowohl in den Epen wie auch in einigen der Upanishaden gefunden werden. Seinen vollkommensten Ausdruck findet es jedoch in der Bhagavadgita. Bedeutende Impulse erhält Bhakti aber auch von den einheimischen Gedichten und Liedern an die lokalen Gottheiten, insbesondere jener der Alvaren, Nayanaren und Viraschaivas aus Südindien sowie die Anbeter Krishnas in Bengalen.
Auf diese Weise war es den Hindus möglich, ihren vedantischen Monismus (siehe Vedanta) mit der vedischen Vielgötterei in Einklang zu bringen. Alle individuellen Hindugötter (Saguna genannt, d. h. „mit Eigenschaften“) werden dem Gott (Nirguna bzw. „ohne Eigenschaften“), aus dem diese hervorgegangen sind, untergeordnet. Folglich verehren die meisten Hindus mit Hingabe die Götter (durch Bhakti), die sie in Ritualen (durch Karma) anbeten und die sie aufgrund von Meditation (durch Jnana) als höchste Wirklichkeit erkennen. Die Widerspiegelung dieser höchsten Wirklichkeit ist wiederum die materielle Welt der Erscheinungen, die als bloße Täuschung (Maya) oder als Spiel Gottes (Lila) angesehen wird.
Obzwar alle Hindus die Existenz und Bedeutung einer ganzen Reihe von Göttern und Halbgöttern anerkennen, verehren die meisten individuellen Anbeter einen einzigen Gott bzw. Göttin, von denen Shiva, Vishnu und die Göttin Devi die verbreitetsten sind.
Bei Shiva handelt es sich scheinbar um die Verkörperung zweier gegensätzlicher Naturen, und zwar ist er sowohl Gott der Askese wie auch Gott des Phallus. Er ist die Gottheit der Entsager, insbesondere der vielen Shaiva-Sekten, die ihn verehren. In der Tradition des Mythos, soll Shiva seinen Bruder Brahma geköpft haben, da dieser mit seinen Geschwistern schlief. Als Strafe musste er Brahmas Totenschädel tragen, bis er in der Stadt Benares (heute Varanasi) die Erlösung fand. Weitere Sekten der Shaiva sind die Pashupatas, Verehrer des Shiva Pashupati oder des „Herrn der Tiere“ und die Aghoris, „die nichts entsetzen kann“, Yogis, die Kot oder Fleisch essen, um ihre Gleichgültigkeit gegenüber Freud und Leid zu beweisen. Shiva ist auch der Gott, dessen Phallus (Lingam) das zentrale Heiligtum aller Shivatempel und persönliches Heiligtum im Haushalt jedes Shaiva ist. Einer Legende zufolge ließ sich Shiva beim Liebesspiel mit Parvati nicht einmal durch den Besuch des Weisen Bhrigu stören und wird daher durch den Phallus verehrt. Weiter wird von ihm gesagt, dass er in verschiedenen Gestalten als Mensch, Tier und Pflanze auf der Erde erschien und viele lokale Heiligtümer errichtete.
Vishnu wird als allgegenwärtiger Gott verehrt. Seinem Nabel entsprang eine Lotosblüte, aus der der Schöpfer (Brahma) geboren wurde. Vishnu schuf das Universum, indem er den Himmel von der Erde trennte, und bewahrte es später zahlreiche Male vor dem Untergang. Er wird auch in Gestalt der Avatara oder „Herabkunft“ (Avatara) verehrt, d. h. in seinen verschiedenen Inkarnationen, u. a. als Fisch, Schildkröte und Eber. Andere Inkarnationen sind der Zwerg (Vamana, der sich in einen Riesen verwandelte, um den Dämon Bali aus dem Universum zu verjagen), der Mann-Löwe (Marasimha, der dem Dämon Hirayjakasipu den Bauch aufschlitzte) sowie Buddha (der den frommen Dämonen die falsche Lehre überbringen sollte), Rama mit der Axt (Parashurama, der seine unkeusche Mutter köpfte und die gesamte Klasse der Kshatriyas vernichtete, um seinen Vater zu rächen) und Kalki (der Reiter mit dem weißen Pferd, der am Ende der Kali-Zeitalters kommen wird, um das Universum zu zerstören). Die weitaus bekanntesten Inkarnationen sind Rama (Held der Ramayana) und Krishna (Held der Mahabharata und der Bhagavata-Purana). Beide gelten als Inkarnationen von Vishnu, obwohl sie ursprünglich Helden des Menschengeschlechts waren.
Zu den Hauptgottheiten gehören neben diesen beiden männlichen Göttern auch einige Göttinnen. Sie werden zum Teil auch als unterschiedliche Naturen der Göttin Devi angesehen. Einigen Mythen zufolge ist Devi die Urbewegerin, die den männlichen Göttern Anweisungen zur Schöpfung oder Vernichtung erteilt. Als Durga, „die schwer Zugängliche“, tötet sie in einem Kampf den Büffeldämon Mahisha. Als Kali, die Schwarze, tanzt sie auf den Leichnamen derer, die sie zuvor abgeschlachtet und verzehrt hat, und ist geschmückt mit den Schädeln und abgeschnittenen Händen ihrer Opfer. Die Göttin wird auch von den Shaktas, den Anhängern von Shakti, der weiblichen Urkraft, verehrt. Diese Sekte entstand zeitgleich mit dem Tantrismus. In vielen tantrischen Kulten wird die Göttin zu Krishnas Partnerin Radha.
Friedvollere Verkörperungen der Göttin sind die Gattinnen der großen Götter. Lakshmi ist die sanfte und fügsame Gattin Vishnus und Fruchtbarkeitsgöttin, während Parvati die Gattin Shivas und die Tochter des Berges Himalaya ist. Ganga, die Göttin des großen Flusses (des Ganges), die auch alleine verehrt wird, soll eine von Shivas Frauen sein sowie Göttin der Musik und Literatur. Sarasvati, die mit dem Fluss Sarasvati in Verbindung gebracht wird, ist die Gattin von Brahma. Viele der lokalen Göttinnen Indiens, wie Manasha, die Göttin der Schlangen in Bengalen, und Minakshi in Madurai, sind mit Hindugöttern verheiratet, während andere, wie Shitala, Göttin der Windpocken, ohne andere Götter verehrt werden. Diese unverheirateten Göttinnen werden wegen ihrer ungebändigten Kräfte und ihrer zornigen und unberechenbaren Ausbrüche gefürchtet.
Viele der kleineren Gottheiten wurden dem zentralen Pantheon angegliedert, indem sie mit den großen Gottheiten bzw. mit deren Kindern und Freunden identifiziert wurden. Hanuman, der Affengott, erscheint im Ramayana als mutiger Gehilfe Ramas, der mit anderen Affen eine Brücke zur Insel Lanka (heute Sri Lanka) bildete. Skanda, der Kriegsgott, ist der Sohn von Shiva und Parvati, und ebenso Ganescha, der Gott mit dem Elefantenkopf, Gott der Schreiber und Händler, der Hindernisse beseitigt und vor wichtigen Unternehmungen angerufen wird.
Die wichtigsten Riten des Hinduismus sind jene des Übergangs (Samskaras). Sie beginnen mit der Geburt und dem Ereignis, bei dem das Kind zum ersten Mal feste Nahrung (Reis) zu sich nimmt. Spätere Riten umfassen das erste Haareschneiden (bei Jungen) sowie die Reinigung nach der ersten Menstruation (bei Mädchen). Es folgen Heirat und die Segnung der Schwangerschaft sowie eine gelungene Entbindung und das Überleben des Kindes während der ersten sechs Tage (Shashti, Göttin der Sechs). Schließlich gibt es Bestattungszeremonien (Leichenverbrennungen, bei der von einem großen Teil der Hindus die Asche in den Ganges gestreut wird, der als heiliger Fluss gilt) wie auch die jährlichen Opferrituale für die gestorbenen Ahnen. Die berühmteste Opfergabe ist der Pinda, eine Reiskugel mit Sesamkernen, die von dem ältesten Sohn überreicht wird, auf dass der Geist des Vaters aus dem Limbus, der Vorhölle, zur Wiedergeburt übergehen kann.
Bei den täglichen Ritualen legt der Hindu (gewöhnlich die Ehefrau, da ihr eher die Kräfte zugestanden werden, sich mit den Göttern in Verbindung zu setzen) Früchte- oder Blumenopfer (Puja) an einem kleinen Hausschrein nieder. Sie opfert auch den lokalen Schlangen, Bäumen oder den dunklen Geistern (sowohl den gütigen wie auch den bösartigen), die sich im eigenen Garten, an Wegkreuzungen oder magischen Orten des Dorfes aufhalten. Viele Dörfer und alle größeren Städte besitzen Tempel, in denen die Priester während des ganzen Tages Zeremonien abhalten. Diese umfassen Sonnenaufgangsgebete, das Läuten von Glocken, um den Gott im Allerheiligsten (der Garbhagrih oder dem „Haus des Mutterleibes“) zu erwecken, sowie Baden, Ankleiden und Luftzufächeln und schließlich die Nahrungsdarbietung an Gott. Die Reste der Nahrung (Prasada) werden dann an die Gläubigen verteilt. Der Tempel ist auch Kulturzentrum, wo Lieder gesungen, heilige Texte in Sanskrit oder den Landessprachen rezitiert und Sonnenuntergangsrituale durchgeführt werden. Fromme Laien dürfen an den meisten dieser Zeremonien teilnehmen. In den meisten Tempeln, insbesondere in jenen, die den Göttinnen geweiht sind (wie der Kalighattempel der Göttin Kali in Kalkutta), werden zu besonderen Gelegenheiten Ziegen geopfert. Das Opfer wird häufig von besonderen Priestern der niederen Kasten, außerhalb der Grenzen des eigentlichen Tempels, dargebracht. Es gibt Tausende von einfachen örtlichen Tempeln, die meist nicht mehr sind als ein kleines steinernes Gehäuse, das eine formlose, in Stoff gehüllte Steinplastik enthält. In Indien gibt es aber auch viele groß angelegte Tempel oder auch ganze Tempelstädte, die zum Teil aus Höhlen entstanden sind (wie z. B. Elephanta und Ellora), aus großen Monolithen gehauen wurden (wie jene von Mahabalipuram) oder aus eigens hierfür eingeführten, kunstvoll gemeißelten Steinplatten (wie die Tempel von Khajuraho, Bhubaneswar, Madurai und Kanjeevaram) bestehen. An besonderen Tagen, gewöhnlich einmal im Jahr, wird das Standbild des Gottes aus seinem Schrein geholt und in einem mit prachtvollen Schnitzereien versehenen Holzwagen (Ratha) in einer Prozession um die Tempelanlage gefahren.
Viele heilige Orte oder Heiligtümer (Tirthas, wörtlich „Furt“), wie Rishikesch im Himalaya oder Varanasi am Ganges, sind Ziel von Pilgern aus ganz Indien. Andere wiederum sind hauptsächlich örtliche Heiligtümer. Bestimmte Heiligtümer werden am häufigsten während der besonderen jährlichen Festtage besucht. Prajaga z. B., dort wo der Ganges und der Jamuna bei Allahabad zusammenfließen, galt schon sehr früh als ein heiliger Ort. Jeden Januar jedoch, während des Kumbha-Mela-Festes, kommen die Pilger in Strömen, und bei einer besonderen Zeremonie, die einmal in zwölf Jahren stattfindet, wächst die Zahl der Pilger auf über eine Million. In Bengalen wird die Heimkehr der Göttin Durga zu ihrer Familie und zu ihrem Ehemann Shiva in jedem Jahr am Durgapuya-Fest gefeiert. An diesem Tag wird das Bildnis der Göttin aus Pappmaché zehn Tage lang verehrt und danach in einer Mitternachtszeremonie bei Trommelklängen und Kerzenlicht im Ganges versenkt. Einige Feste werden in ganz Indien gefeiert, so z. B. das Fest des Lichtes zu Winterbeginn und Holi, der Frühlingskarneval, an dem Mitglieder aller Kasten teilnehmen, ihre Haare lösen und sich gegenseitig mit Kaskaden von rotem Pulver und Flüssigkeit bespritzen, als Symbol des Blutes, das wahrscheinlich in vergangenen Jahrhunderten üblich war.
Zwischen 200 v. Chr. und 500 n. Chr. wurde Indien von vielen nördlichen Mächten überfallen, von denen die Sakas (Skythen) und Kushanas den nachhaltigsten Einfluss ausübten. Es war eine Zeit der Unbeständigkeit, des Wachstums und des Synkretismus sowie der Herausbildung des Hinduismus, die Zeit, in der die Epen, die Dharmashastras und Dharmasutras, ihre endgültige Form annahmen. Während der Guptadynastie, 320 bis etwa 480, als der größte Teil des nördlichen Indiens unter einer Macht vereint war, fand der klassische Hinduismus seinen höchsten Ausdruck. Die heiligen Gesetze wurden formuliert, der Bau der großen Tempel setzte ein, und Mythen und Rituale wurden in den Puranas zusammengefasst.
In der Postguptazeit bildete sich eine weniger strenge, eklektische Form des Hinduismus heraus, die zu Abspaltungen von volkstümlichen Bewegungen führte. Es war auch die Zeit der Entstehung der großen frommen Bewegungen. Viele der Sekten, die zwischen 800 und 1800 entstanden, bestehen in Indien bis zum heutigen Tag.
Der Überlieferung nach wurden die meisten Bhakti-Bewegungen von Heiligen begründet, von den Gurus, die den Glauben in ungebrochener Tradition von Guru zu Schüler (Chela) weitervermittelten. Diese Tradition bildet neben dem geschriebenen Kanon die Grundlage für den Einfluss, den die Bhakti-Sekte erlangte. Weitere Glaubensformen gründen sich auf die Lehren der Philosophen, wie Shankara und Ramanuja. Shankara war der Vertreter des reinen Monismus oder Nondualismus (Advaita Vedanta) und der Lehre, dass alles, was wirklich scheint, bloße Täuschung sei. Ramanuja vertrat in seiner Philosophie einen bedingten Nondualismus (Vishishta-Advaita). Er versuchte, den Glauben an den Gott ohne Eigenschaften (Nirguna) mit der Anbetung eines Gottes mit Eigenschaften (Saguna) in Einklang zu bringen und somit das Paradoxon von der Liebe zu einem Gott, der eine Identität annehmen kann, zu lösen.
Die Philosophien von Shankara und Ramanuja entwickelten sich im Umfeld der sechs großen klassischen Systeme der indischen Philosophie (Darshanas): die Karma Mimamsa („Erforschung der Tat“), die Vedanta („Ende der Weden“), in deren Tradition das Werk von Shankara und Ramanuja betrachtet werden sollte, das Samkhja-System, welches den Gegensatz zwischen einem trägen, männlichen Prinzip des Geistes (Puruscha) und einem tätigen, weiblichen Prinzip der Materie oder Natur (Prakriti) beschreibt. Diese geistlose Urmaterie vereinigt die drei Eigenschaften (Gunas): Güte (Sattva), Leidenschaft (Radshas) und Finsternis (Tamas). Des Weiteren gibt es noch das Yoga-System und das stark metaphysisch betonte System der Vaisheshika (eine Art atomistischer Realismus) sowie Nyaya (Regeln), das von dem Brahmanen Gotama gegründet wurde, der Regeln des Denkens, der Dialektik und Logik aufstellte.
Parallel zu diesen umfassenden Sanskrit-Philosophien entstanden volkstümliche Gesänge, die als mündliche Tradition an verschiedenen Orten Indiens gepflegt wurden. Sie wurden im 7., 8. und 9. Jahrhundert von den Alvaren, Nayanaren und Virashaivas in den Sprachen Tamil und Kannada und im 15. Jahrhundert von dem Dichter Mira Bai aus Rajasthan in dem Dialekt Braj verfasst. Im 16. Jahrhundert gründete Chaitanya in Bengalen eine Sekte mit erotisch-mystischem Charakter, die stark vom tantrischen Buddhismus beeinflusst ist und die Vereinigung von Krishna und Radha in einer tantrischen Religiosität feiert. Chaitanja glaubte, dass Krishna und Radha in ihm wieder geboren seien und dass das Dorf Vrindaban, in dem Krishna aufwuchs, in Bengalen wieder erscheine. Die Schule der Gosvamins, der Schüler von Chaitanya, entwickelte eine Theologie der rituellen Inszenierung von Krishnas Leben.
Solche rituellen Dramen entwickelten sich während des 16. Jahrhunderts auch in der Umgebung des Dorfes Vrindaban und wurden von Hindidichtern vorgetragen. Der erste große mystische Hindidichter war Kabir, der angeblich muslimischer Abstammung gewesen sein soll. Er war stark vom Islam beeinflusst, insbesondere vom Sufismus. Seine Gedichte hinterfragen sowohl die kanonischen Dogmen des Hinduismus als auch des Islam. Sie preisen Rama und versprechen Erlösung durch das Rezitieren des heiligen Namens Rama. Sein Nachfolger war Tulsidas, der eine beliebte Hindiversion des Ramayana schrieb. Surdas, ein Zeitgenosse von Tulsi Das, verfasste Gedichte über das Leben Krishnas in Vrindaban, die die Grundlage der Ras lilas, der lokalen Inszenierungen des Mythos von Krishnas Kindheit, bildeten. Im Norden Indiens spielen diese bei der Verehrung Krishnas auch heute noch eine bedeutende Rolle.
Im 19. Jahrhundert wurden unter der Schirmherrschaft von Ramakrishna und Vivekananda und der Sekten Arya-Samaj und Brahmasamaj wichtige Reformen durchgeführt. Diese Reformbewegungen versuchten den traditionellen Hinduismus mit den sozialen Reformen und politischen Idealen der Gegenwart zu verbinden. Teil dieser Reformbewegungen waren auch die Führer nationaler Bewegungen, wie Sri Aurobindo Ghose und Mohandas Gandhi, die diese in politische und soziale Ziele umsetzten. Gandhi z. B. entwickelte aus der Grundregel vom Ahimsa oder dem „Nichtverletzen“ seine Lehre vom passiven Widerstand (siehe ziviler Ungehorsam). Sein Ziel war es, die Kaste der „Unberührbaren“ zu reformieren sowie die Unabhängigkeit Indiens zu erreichen. Bhimrau Ramji Ambedkar verhalf sowohl dem Mythos von den Brahmanen, die ihre Kaste verlassen hatten, als auch dem Mythos von der Ureinheit des Buddhismus und des Hinduismus zu neuem Leben, um den „Unberührbaren“ durch eine Neubekehrung zum Buddhismus ihre Selbstachtung finden zu lassen.
In jüngeren Zeiten wanderten zahlreiche selbst ernannte indische Religionslehrer nach Europa und in die Vereinigten Staaten aus, wo sie große Anhängerschaften fanden. Einige der religiösen Sekten, wie die von Bhaktivedanta gegründete Hare-Krishna-Bewegung, gehen angeblich auf den klassischen Hinduismus zurück. Trotz zahlreicher Einschränkungen der Religion, die die Modernisierung und Urbanisierung Indiens mit sich brachte, lebt der Hinduismus ungestört weiter. Die Mythen überdauern im hinduistischen Film, und die Übergangsriten leben nicht nur im Tempel, sondern auch im täglichen Leben weiter. Der Hinduismus, der für Indien während der jahrhundertelangen Fremdherrschaft und inneren Zerrissenheit eine wichtige Stütze war, wirkt somit weiterhin als eine lebendige Kraft.
Ein wichtiges Element der späteren Vedischen Religion ist die Kaste (portugiesisch casta; von lateinisch castus: rein, keusch), streng abgeschlossene Gesellschaftsschicht des indischen Gesellschaftssystems, in dem eine gesellschaftliche Hierarchie von Generation zu Generation weitergegeben wird und das so gut wie keine soziale Mobilität kennt. Das Wort Kaste wurde zuerst von den portugiesischen Kaufleuten des 16. Jahrhunderts gebraucht; es ist abgeleitet vom portugiesischen casta, das Familiengeschlecht, Herkunft oder Rasse bedeutet. Das entsprechende Wort im Sanskrit heisst jati. Der sanskritische Begriff varna bezeichnet eine Gruppe von jati oder das Kastensystem.
Irgendwann zwischen 200 v. Chr. und 100 n. Chr. wurde das Manu Smriti oder Manus Gesetzbuch geschrieben. In ihm schafften die priesterlichen Gesetzgeber die vier grossen erblichen Gruppen der Gesellschaft, die noch heute bestehen, und stellten ihre eigene Priesterklasse mit der Bezeichnung irdische Götter oder Brahmanen an die Spitze dieser Kastenordnung. Zweite in der Rangordnung waren die Krieger, die Kschatrija, und ihnen folgten die Waischia, die Bauern und Händler. Die vierte der ursprünglichen Kasten waren die Schudra, die Arbeiter, geboren, um Diener der anderen drei Kasten, besonders der Brahmanen, zu sein. Weit unter den Schudra – tatsächlich völlig ausserhalb der Gesellschaftsordnung und auf die Verrichtung der niedrigsten und unangenehmsten Dienste beschränkt – befanden sich die Kastenlosen, die Harijans oder Unberührbaren. Das waren die Drawida, die eingeborenen Einwohner Indiens, zu deren Kaste von Zeit zu Zeit die Parias oder Ausgestossenen hinzukamen, Menschen, die wegen religiöser oder sozialer Vergehen aus den Kasten ausgestossen wurden, in die sie geboren waren. So wie sie von den Priestern aufgestellt war, wurde die Kastenordnung Bestandteil der hinduistischen Religion und bezog damit ihre Legitimation aus dem Anspruch der Brahmanen auf göttliche Erleuchtung.
Die Merkmale einer indischen Kaste bestehen aus der starren, erblichen Zugehörigkeit zu der Kaste, in die man geboren wird, dem Brauch, nur Mitglieder der gleichen Kaste zu heiraten, Beschränkungen bei der Wahl des Berufs und bei persönlichen Kontakten mit Mitgliedern anderer Kasten und der Akzeptanz eines festen Platzes in der Gesellschaft durch jeden einzelnen. Das Kastensystem wurde durch die hinduistischen Vorstellungen von Samsara (Wiedergeburt) und Karma (Tat, Werk) auf Dauer gefestigt. Nach diesen Glaubensvorstellungen werden alle Menschen auf der Erde wiedergeboren, und zwar in die Kaste, in die sie nach ihrem vorherigen Leben gehören. Das bedeutet auch, dass ein jeder die Chance hat, in eine andere, höhere Kaste geboren zu werden, aber nur, wenn sie die Regeln ihrer Kaste in ihrem jetzigen Erdenleben befolgen.
Die vier ursprünglichen Kasten sind im Lauf vieler Jahrhunderte wieder und wieder unterteilt worden, so dass man inzwischen keine genaue Zahl mehr angeben kann. Schätzungen reichen von 2 000 bis zu 3 000 verschiedenen Kasten, die durch Gesetz der Brahmanen in ganz Indien errichtet wurden. Jede Region hat ihre eigenen besonderen Gruppen, künstlich abgegrenzt und durch Gewohnheit zementiert.
Aus der vedischen Religion entstandene eigene Richtung, der mit circa 80 Prozent die Mehrheit der indischen Bevölkerung angehört und die darüber hinaus in weiteren Teilen der Welt verbreitet ist, u. a. in Nepal und Bali. Das persische Wort Hindu wurde von Sanskrit saindhava; indisch sindhu („Fluss“ oder genauer der Indus) abgeleitet und bezeichnete im 5. Jahrhundert v. Chr. die Bewohner jenes Landes nach seinem Fluss, dem Indus. Die Hindus bezeichnen sich selbst als „jene, die an die Veden glauben“ (siehe Veda) oder als „jene, die den Weg (Dharma) der vier Klassen (Warnas) und Lebensstadien (Ashramas) befolgen“.
Die Veränderung, die sich seit der Vedischen Zeit(1300-1000 v.Chr.) vollzog, tritt am augenfälligsten in der Zunahme der Götterwelt in Erscheinung. Zwar werden vedische Götter, wie Agni, Mitra, Varuna, Soma noch verehrt, aber sie sind durch persönliche Gestalten immer mehr in den Hintergrund gerückt worden. Das ursprüngliche Pantheon (Oberster Ort, Gericht) wurde durch neue persönliche Götter bestückt.
Die beiden für die Folgezeit zentralen Neuerungen sind die Einsamkeits- oder Alleinheitslehre verbunden mit dem Erlösungsgedanken und die Lehre von der Wiedergeburt in einer neuen Gestalt, die aus den im früheren Leben vollbrachten Taten resultiert.
Der Hinduismus ist eine der bedeutendsten Weltreligionen, nicht nur was die Zahl seiner Anhänger betrifft (ca. 900 Millionen), sondern auch aufgrund des großen Einflusses, den er seit etwa 300 v. Chr., während seiner langen Entwicklungsgeschichte, auf die vielen anderen Religionen ausübte. Der Hinduismus, der in hohem Maße dazu neigt, fremde Elemente aufzunehmen, wurde seinerseits von diesen unterschiedlichen Religionen beeinflusst, was zum größten Teil zu seinem ausgeprägten Synkretismus, d. h. zu der Vielzahl von Glaubensformen und Praktiken, führte. Neben der hinduistischen Lehre führten insbesondere die geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Indien dazu, dass sich der Hinduismus zu einem sozialen und religiösen System entwickelte, das alle Aspekte des menschlichen Lebens bestimmt.
Da die Schriften des Hinduismus mehr von den Taten der Menschen als von ihrem Denken handeln, findet man, obwohl es nur wenige Praktiken und Glaubensformen gibt, die von allen ausgeübt werden, eine weitaus größere Übereinstimmung im Verhalten der Hindus als in ihrem Glauben. Neben der Rezitation der Gayatri-Hymne bei Morgengrauen gibt es keine festgelegten oder vorgeschriebenen Gebete. Die meisten Hindus verehren Shiva, Vishnu oder die weibliche Gottheit Devi. Darüber hinaus werden von Dörfern und einzelnen Familien Hunderte von kleineren lokalen Gottheiten angebetet. Es gibt einige wenige Praktiken, die bei fast allen Hindus üblich sind: die Hochachtung gegenüber ihren Priestern, den Brahmasamadsch, und die Verehrung der Kuh, das Verbot Fleisch, insbesondere Rindfleisch, zu verzehren sowie die Eheschließung innerhalb der Kaste (Jati), wobei die Hoffnung auf männliche Nachkommen vorherrscht. Neben der Hierarchie des Gesellschaftssystems, die untrennbar mit der Religion verbunden ist und jeder Person ihren Platz im einheitlichen Gefüge zuweist, gibt es im Hinduismus weder ein Lehrgebäude noch die Hierarchie einer religiösen Institution.
Die höchste kanonische Autorität aller Hindus ist die Vedanta (Abschluss der Veden). Um 600 v. Chr. begann die Entstehung der ersten Schriften, der Upanishaden, jene mystisch-philosophischen Texte über den Sinn des Lebens und das Wesen des Universums. Um 400 n.Chr. war dann das Gesamtwerk zur Vedanta vollendet.
In den Erzählungen dieser Texte ist gleichzeitig eine komplexe Kosmologie enthalten. Die Hindus betrachten das Universum als große, geschlossene Sphäre, als kosmisches Ei, das zahlreiche konzentrische Himmel, Höllen, Meere und Erdteile enthält und in deren Mittelpunkt sich Indien befindet. Vom goldenen Zeitalter bzw. Krita-Yuga ausgehend, gelangt man über zwei Zwischenperioden, geprägt vom fortschreitenden Verfall der Güte, zur Gegenwart bzw. dem Kali-Yuga. Am Ende jedes Kali-Yugas wird die Welt durch Feuer und Flut vernichtet, und ein neues goldenes Zeitalter bricht an. Das menschliche Leiden ist gleichfalls einem Zyklus unterworfen: Nach dem Tod verlässt die Seele den Körper und wird im Körper eines anderen Menschen, eines Tieres, einer Pflanze oder eines Minerals wieder geboren. Diese endlose Kette von Leben und Wiedergeburten wird Samsara genannt (Seelenwanderung). Das Schicksal des Menschen in dem neuen Leben wird dabei von seinen in den vorhergehenden Leben angesammelten guten oder bösen Taten, dem Karma, bestimmt. Die Hindus glauben daran, dass das Karma durch Buße und Rituale aufgearbeitet werden kann und dass der Verzicht auf weltliches Begehren zur Erlösung (Moksha) aus dem ewigen Kreislauf der Geburten, dem Samsara, führt.
Die Hindus können dementsprechend in zwei Gruppen unterteilt werden: diejenigen, die nach der heiligen und weltlichen Belohnung (Gesundheit, Wohlstand, Nachkommen sowie einer vorteilhaften Wiedergeburt) in der Welt suchen und in jene, die nach Erlösung von der Welt suchen. Die Grundsätze des ersten Weges, die auf die Veden zurückgehen, werden heute vom Tempelhinduismus, von der Religion der Brahmanen und vom Kastensystem vertreten. Der zweite Weg, der in den Upanishaden vorgeschrieben wird, ist nicht nur Hauptziel der Entsagungskulte (Sannyasa), sondern auch das Ideal der meisten Hindus.
Die weltliche Richtung des Hinduismus wurde ursprünglich von drei Veden geprägt, von drei Gesellschaftsklassen (Varnas), drei Lebensabschnitten (Ashramas) und den drei Zielen der Männer (Purusharthas), wobei die Ziele oder Bedürfnisse der Frauen in den alten Texten selten erwähnt werden. Den ersten drei Veden wurde eine vierte, die Atharvaveda, hinzugefügt. Die ersten drei Klassen (Brahmanen oder Priester, Kshatriyas oder Krieger und die Vaishyas oder gemeines Volk) wurden von der Dreiteilung der antiken römischen und griechischen Gesellschaft abgeleitet. Den drei Gesellschaftsklassen wurde die der Shudras oder Knechte hinzugefügt, nachdem sich die Indogermanen im Pandschab niederließen, von wo aus sie das Tal des Ganges besiedelten. Die drei ursprünglichen Ashramas umfassten das keusche Leben der Brahmanenschüler (Brahmatscharya), das Leben als Hausvater (Grihastha) und das Leben als Waldeinsiedler (Vanaprastha). Außerdem hatten sie angeblich drei Schulden zu begleichen: das Studium der Veden, das sie den Weisen schuldeten, einen Sohn, den sie den Ahnen schuldeten, sowie die Opfer, die sie den Göttern schuldeten. Die drei Ziele waren Artha (materieller Erfolg), Dharma (rechtes Handeln, gemäß der sittlichen Gebote sowie den Pflichten der Kaste) und Kama (sinnliche Freuden). Kurz nach Entstehung der ersten Upanishaden und zur Zeit des Aufkommens des Buddhismus im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde ein viertes Ashrama und das entsprechende vierte Ziel hinzugefügt: der Entsager (Sannyasi), dessen Ziel die Erlösung (Moksha) von allen anderen Lebensabschnitten, Zielen und Schulden ist.
Für jede dieser beiden Lebensarten eines Hindus wurden eigene sich gegenseitig beeinflussende metaphysische und gesellschaftliche Systeme entwickelt. Das Kastensystem und die ihm zugrunde liegende Philosophie des Svadharma oder des „eigenen Dharma“ entwickelten sich innerhalb des weltlichen Hinduismus. Das Svadharma besagt, dass der Mensch geboren wird, um eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, eine bestimmte Person zu heiraten, bestimmte Nahrung aufzunehmen und Kinder zu zeugen oder zu gebären, die dann ihrerseits in gleichem Sinn leben. Auch besagt es, dass es besser sei, sein eigenes Dharma zu erfüllen als das von anderen, auch wenn das eigene Dharma minderwertig und verwerflich sei wie jenes der Paria. Die Paria werden auch „Unberührbare“ genannt, da schon ihre bloße Anwesenheit den Hindu, der einer anderen Kaste angehört, beflecken könnte. Das oberste Ziel der weltlichen männlichen Hindu ist, einen Sohn zu zeugen und großzuziehen, der dann den Ahnen Opfer darbringen wird (die Shraddha-Zeremonie). Der zweite Weg des Hinduismus, der der Entsagung, stützt sich auf die Philosophie der Upanishaden von der Einheit der individuellen Seele, dem Atman, mit Brahman, der universellen Weltseele oder Gott. Das Erkennen dieser Einheit gilt als ausreichend, um den Hindu von einer Wiedergeburt zu erlösen. Dieser Anschauung zufolge könne nichts die Erlösung mehr beeinträchtigen als die Geburt eines Kindes. Der weltliche Hinduismus hat viele Ziele und Ideale von dem Hinduismus der Entsagung übernommen, insbesondere die Idee vom ewigen Dharma, dem Sanatana Dharma. Dieses ewige Dharma ist ein absolutes und allgemeines ethisches Gesetz, das angeblich alle sekundären, bedingten und besonderen Dharmas umfasst und gleichzeitig transzendiert. Der wichtigste Grundsatz des Sanatana Dharma (Ewige Religion) ist für alle Hindus das Ahimsa, das Gebot, keine Lebewesen zu töten, aus dem der Vegetarismus folgt. Dieser Grundsatz verhindert jedoch nicht die Gewaltanwendung gegen Mensch und Tier bzw. das Blutopfer in den Tempeln.
Neben dem Sanatana Dharma wurden noch zahlreiche weitere Versuche unternommen, die beiden Richtungen des Hinduismus miteinander auszusöhnen. Das religiös-philosophische Lehrgedicht Bhagavadgita beschreibt drei Pfade zur religiösen Vervollkommnung. Dem Pfad der Taten oder des Karma, das sich hier auf Opfer und religiöse Handlungen bezieht, und dem Pfad der Erkenntnis oder Jnana, der Meditation, wurde ein vermittelnder dritter Pfad hinzugefügt, und zwar jener der leidenschaftlichen Hingabe an Gott oder Bhakti. Es ist ein religiöses Ideal, das die anderen beiden Ideale verbindet und gleichzeitig über ihnen steht. In allgemeiner Form kann Bhakti sowohl in den Epen wie auch in einigen der Upanishaden gefunden werden. Seinen vollkommensten Ausdruck findet es jedoch in der Bhagavadgita. Bedeutende Impulse erhält Bhakti aber auch von den einheimischen Gedichten und Liedern an die lokalen Gottheiten, insbesondere jener der Alvaren, Nayanaren und Viraschaivas aus Südindien sowie die Anbeter Krishnas in Bengalen.
Auf diese Weise war es den Hindus möglich, ihren vedantischen Monismus (siehe Vedanta) mit der vedischen Vielgötterei in Einklang zu bringen. Alle individuellen Hindugötter (Saguna genannt, d. h. „mit Eigenschaften“) werden dem Gott (Nirguna bzw. „ohne Eigenschaften“), aus dem diese hervorgegangen sind, untergeordnet. Folglich verehren die meisten Hindus mit Hingabe die Götter (durch Bhakti), die sie in Ritualen (durch Karma) anbeten und die sie aufgrund von Meditation (durch Jnana) als höchste Wirklichkeit erkennen. Die Widerspiegelung dieser höchsten Wirklichkeit ist wiederum die materielle Welt der Erscheinungen, die als bloße Täuschung (Maya) oder als Spiel Gottes (Lila) angesehen wird.
Obzwar alle Hindus die Existenz und Bedeutung einer ganzen Reihe von Göttern und Halbgöttern anerkennen, verehren die meisten individuellen Anbeter einen einzigen Gott bzw. Göttin, von denen Shiva, Vishnu und die Göttin Devi die verbreitetsten sind.
Bei Shiva handelt es sich scheinbar um die Verkörperung zweier gegensätzlicher Naturen, und zwar ist er sowohl Gott der Askese wie auch Gott des Phallus. Er ist die Gottheit der Entsager, insbesondere der vielen Shaiva-Sekten, die ihn verehren. In der Tradition des Mythos, soll Shiva seinen Bruder Brahma geköpft haben, da dieser mit seinen Geschwistern schlief. Als Strafe musste er Brahmas Totenschädel tragen, bis er in der Stadt Benares (heute Varanasi) die Erlösung fand. Weitere Sekten der Shaiva sind die Pashupatas, Verehrer des Shiva Pashupati oder des „Herrn der Tiere“ und die Aghoris, „die nichts entsetzen kann“, Yogis, die Kot oder Fleisch essen, um ihre Gleichgültigkeit gegenüber Freud und Leid zu beweisen. Shiva ist auch der Gott, dessen Phallus (Lingam) das zentrale Heiligtum aller Shivatempel und persönliches Heiligtum im Haushalt jedes Shaiva ist. Einer Legende zufolge ließ sich Shiva beim Liebesspiel mit Parvati nicht einmal durch den Besuch des Weisen Bhrigu stören und wird daher durch den Phallus verehrt. Weiter wird von ihm gesagt, dass er in verschiedenen Gestalten als Mensch, Tier und Pflanze auf der Erde erschien und viele lokale Heiligtümer errichtete.
Vishnu wird als allgegenwärtiger Gott verehrt. Seinem Nabel entsprang eine Lotosblüte, aus der der Schöpfer (Brahma) geboren wurde. Vishnu schuf das Universum, indem er den Himmel von der Erde trennte, und bewahrte es später zahlreiche Male vor dem Untergang. Er wird auch in Gestalt der Avatara oder „Herabkunft“ (Avatara) verehrt, d. h. in seinen verschiedenen Inkarnationen, u. a. als Fisch, Schildkröte und Eber. Andere Inkarnationen sind der Zwerg (Vamana, der sich in einen Riesen verwandelte, um den Dämon Bali aus dem Universum zu verjagen), der Mann-Löwe (Marasimha, der dem Dämon Hirayjakasipu den Bauch aufschlitzte) sowie Buddha (der den frommen Dämonen die falsche Lehre überbringen sollte), Rama mit der Axt (Parashurama, der seine unkeusche Mutter köpfte und die gesamte Klasse der Kshatriyas vernichtete, um seinen Vater zu rächen) und Kalki (der Reiter mit dem weißen Pferd, der am Ende der Kali-Zeitalters kommen wird, um das Universum zu zerstören). Die weitaus bekanntesten Inkarnationen sind Rama (Held der Ramayana) und Krishna (Held der Mahabharata und der Bhagavata-Purana). Beide gelten als Inkarnationen von Vishnu, obwohl sie ursprünglich Helden des Menschengeschlechts waren.
Zu den Hauptgottheiten gehören neben diesen beiden männlichen Göttern auch einige Göttinnen. Sie werden zum Teil auch als unterschiedliche Naturen der Göttin Devi angesehen. Einigen Mythen zufolge ist Devi die Urbewegerin, die den männlichen Göttern Anweisungen zur Schöpfung oder Vernichtung erteilt. Als Durga, „die schwer Zugängliche“, tötet sie in einem Kampf den Büffeldämon Mahisha. Als Kali, die Schwarze, tanzt sie auf den Leichnamen derer, die sie zuvor abgeschlachtet und verzehrt hat, und ist geschmückt mit den Schädeln und abgeschnittenen Händen ihrer Opfer. Die Göttin wird auch von den Shaktas, den Anhängern von Shakti, der weiblichen Urkraft, verehrt. Diese Sekte entstand zeitgleich mit dem Tantrismus. In vielen tantrischen Kulten wird die Göttin zu Krishnas Partnerin Radha.
Friedvollere Verkörperungen der Göttin sind die Gattinnen der großen Götter. Lakshmi ist die sanfte und fügsame Gattin Vishnus und Fruchtbarkeitsgöttin, während Parvati die Gattin Shivas und die Tochter des Berges Himalaya ist. Ganga, die Göttin des großen Flusses (des Ganges), die auch alleine verehrt wird, soll eine von Shivas Frauen sein sowie Göttin der Musik und Literatur. Sarasvati, die mit dem Fluss Sarasvati in Verbindung gebracht wird, ist die Gattin von Brahma. Viele der lokalen Göttinnen Indiens, wie Manasha, die Göttin der Schlangen in Bengalen, und Minakshi in Madurai, sind mit Hindugöttern verheiratet, während andere, wie Shitala, Göttin der Windpocken, ohne andere Götter verehrt werden. Diese unverheirateten Göttinnen werden wegen ihrer ungebändigten Kräfte und ihrer zornigen und unberechenbaren Ausbrüche gefürchtet.
Viele der kleineren Gottheiten wurden dem zentralen Pantheon angegliedert, indem sie mit den großen Gottheiten bzw. mit deren Kindern und Freunden identifiziert wurden. Hanuman, der Affengott, erscheint im Ramayana als mutiger Gehilfe Ramas, der mit anderen Affen eine Brücke zur Insel Lanka (heute Sri Lanka) bildete. Skanda, der Kriegsgott, ist der Sohn von Shiva und Parvati, und ebenso Ganescha, der Gott mit dem Elefantenkopf, Gott der Schreiber und Händler, der Hindernisse beseitigt und vor wichtigen Unternehmungen angerufen wird.
Die wichtigsten Riten des Hinduismus sind jene des Übergangs (Samskaras). Sie beginnen mit der Geburt und dem Ereignis, bei dem das Kind zum ersten Mal feste Nahrung (Reis) zu sich nimmt. Spätere Riten umfassen das erste Haareschneiden (bei Jungen) sowie die Reinigung nach der ersten Menstruation (bei Mädchen). Es folgen Heirat und die Segnung der Schwangerschaft sowie eine gelungene Entbindung und das Überleben des Kindes während der ersten sechs Tage (Shashti, Göttin der Sechs). Schließlich gibt es Bestattungszeremonien (Leichenverbrennungen, bei der von einem großen Teil der Hindus die Asche in den Ganges gestreut wird, der als heiliger Fluss gilt) wie auch die jährlichen Opferrituale für die gestorbenen Ahnen. Die berühmteste Opfergabe ist der Pinda, eine Reiskugel mit Sesamkernen, die von dem ältesten Sohn überreicht wird, auf dass der Geist des Vaters aus dem Limbus, der Vorhölle, zur Wiedergeburt übergehen kann.
Bei den täglichen Ritualen legt der Hindu (gewöhnlich die Ehefrau, da ihr eher die Kräfte zugestanden werden, sich mit den Göttern in Verbindung zu setzen) Früchte- oder Blumenopfer (Puja) an einem kleinen Hausschrein nieder. Sie opfert auch den lokalen Schlangen, Bäumen oder den dunklen Geistern (sowohl den gütigen wie auch den bösartigen), die sich im eigenen Garten, an Wegkreuzungen oder magischen Orten des Dorfes aufhalten. Viele Dörfer und alle größeren Städte besitzen Tempel, in denen die Priester während des ganzen Tages Zeremonien abhalten. Diese umfassen Sonnenaufgangsgebete, das Läuten von Glocken, um den Gott im Allerheiligsten (der Garbhagrih oder dem „Haus des Mutterleibes“) zu erwecken, sowie Baden, Ankleiden und Luftzufächeln und schließlich die Nahrungsdarbietung an Gott. Die Reste der Nahrung (Prasada) werden dann an die Gläubigen verteilt. Der Tempel ist auch Kulturzentrum, wo Lieder gesungen, heilige Texte in Sanskrit oder den Landessprachen rezitiert und Sonnenuntergangsrituale durchgeführt werden. Fromme Laien dürfen an den meisten dieser Zeremonien teilnehmen. In den meisten Tempeln, insbesondere in jenen, die den Göttinnen geweiht sind (wie der Kalighattempel der Göttin Kali in Kalkutta), werden zu besonderen Gelegenheiten Ziegen geopfert. Das Opfer wird häufig von besonderen Priestern der niederen Kasten, außerhalb der Grenzen des eigentlichen Tempels, dargebracht. Es gibt Tausende von einfachen örtlichen Tempeln, die meist nicht mehr sind als ein kleines steinernes Gehäuse, das eine formlose, in Stoff gehüllte Steinplastik enthält. In Indien gibt es aber auch viele groß angelegte Tempel oder auch ganze Tempelstädte, die zum Teil aus Höhlen entstanden sind (wie z. B. Elephanta und Ellora), aus großen Monolithen gehauen wurden (wie jene von Mahabalipuram) oder aus eigens hierfür eingeführten, kunstvoll gemeißelten Steinplatten (wie die Tempel von Khajuraho, Bhubaneswar, Madurai und Kanjeevaram) bestehen. An besonderen Tagen, gewöhnlich einmal im Jahr, wird das Standbild des Gottes aus seinem Schrein geholt und in einem mit prachtvollen Schnitzereien versehenen Holzwagen (Ratha) in einer Prozession um die Tempelanlage gefahren.
Viele heilige Orte oder Heiligtümer (Tirthas, wörtlich „Furt“), wie Rishikesch im Himalaya oder Varanasi am Ganges, sind Ziel von Pilgern aus ganz Indien. Andere wiederum sind hauptsächlich örtliche Heiligtümer. Bestimmte Heiligtümer werden am häufigsten während der besonderen jährlichen Festtage besucht. Prajaga z. B., dort wo der Ganges und der Jamuna bei Allahabad zusammenfließen, galt schon sehr früh als ein heiliger Ort. Jeden Januar jedoch, während des Kumbha-Mela-Festes, kommen die Pilger in Strömen, und bei einer besonderen Zeremonie, die einmal in zwölf Jahren stattfindet, wächst die Zahl der Pilger auf über eine Million. In Bengalen wird die Heimkehr der Göttin Durga zu ihrer Familie und zu ihrem Ehemann Shiva in jedem Jahr am Durgapuya-Fest gefeiert. An diesem Tag wird das Bildnis der Göttin aus Pappmaché zehn Tage lang verehrt und danach in einer Mitternachtszeremonie bei Trommelklängen und Kerzenlicht im Ganges versenkt. Einige Feste werden in ganz Indien gefeiert, so z. B. das Fest des Lichtes zu Winterbeginn und Holi, der Frühlingskarneval, an dem Mitglieder aller Kasten teilnehmen, ihre Haare lösen und sich gegenseitig mit Kaskaden von rotem Pulver und Flüssigkeit bespritzen, als Symbol des Blutes, das wahrscheinlich in vergangenen Jahrhunderten üblich war.
Zwischen 200 v. Chr. und 500 n. Chr. wurde Indien von vielen nördlichen Mächten überfallen, von denen die Sakas (Skythen) und Kushanas den nachhaltigsten Einfluss ausübten. Es war eine Zeit der Unbeständigkeit, des Wachstums und des Synkretismus sowie der Herausbildung des Hinduismus, die Zeit, in der die Epen, die Dharmashastras und Dharmasutras, ihre endgültige Form annahmen. Während der Guptadynastie, 320 bis etwa 480, als der größte Teil des nördlichen Indiens unter einer Macht vereint war, fand der klassische Hinduismus seinen höchsten Ausdruck. Die heiligen Gesetze wurden formuliert, der Bau der großen Tempel setzte ein, und Mythen und Rituale wurden in den Puranas zusammengefasst.
In der Postguptazeit bildete sich eine weniger strenge, eklektische Form des Hinduismus heraus, die zu Abspaltungen von volkstümlichen Bewegungen führte. Es war auch die Zeit der Entstehung der großen frommen Bewegungen. Viele der Sekten, die zwischen 800 und 1800 entstanden, bestehen in Indien bis zum heutigen Tag.
Der Überlieferung nach wurden die meisten Bhakti-Bewegungen von Heiligen begründet, von den Gurus, die den Glauben in ungebrochener Tradition von Guru zu Schüler (Chela) weitervermittelten. Diese Tradition bildet neben dem geschriebenen Kanon die Grundlage für den Einfluss, den die Bhakti-Sekte erlangte. Weitere Glaubensformen gründen sich auf die Lehren der Philosophen, wie Shankara und Ramanuja. Shankara war der Vertreter des reinen Monismus oder Nondualismus (Advaita Vedanta) und der Lehre, dass alles, was wirklich scheint, bloße Täuschung sei. Ramanuja vertrat in seiner Philosophie einen bedingten Nondualismus (Vishishta-Advaita). Er versuchte, den Glauben an den Gott ohne Eigenschaften (Nirguna) mit der Anbetung eines Gottes mit Eigenschaften (Saguna) in Einklang zu bringen und somit das Paradoxon von der Liebe zu einem Gott, der eine Identität annehmen kann, zu lösen.
Die Philosophien von Shankara und Ramanuja entwickelten sich im Umfeld der sechs großen klassischen Systeme der indischen Philosophie (Darshanas): die Karma Mimamsa („Erforschung der Tat“), die Vedanta („Ende der Weden“), in deren Tradition das Werk von Shankara und Ramanuja betrachtet werden sollte, das Samkhja-System, welches den Gegensatz zwischen einem trägen, männlichen Prinzip des Geistes (Puruscha) und einem tätigen, weiblichen Prinzip der Materie oder Natur (Prakriti) beschreibt. Diese geistlose Urmaterie vereinigt die drei Eigenschaften (Gunas): Güte (Sattva), Leidenschaft (Radshas) und Finsternis (Tamas). Des Weiteren gibt es noch das Yoga-System und das stark metaphysisch betonte System der Vaisheshika (eine Art atomistischer Realismus) sowie Nyaya (Regeln), das von dem Brahmanen Gotama gegründet wurde, der Regeln des Denkens, der Dialektik und Logik aufstellte.
Parallel zu diesen umfassenden Sanskrit-Philosophien entstanden volkstümliche Gesänge, die als mündliche Tradition an verschiedenen Orten Indiens gepflegt wurden. Sie wurden im 7., 8. und 9. Jahrhundert von den Alvaren, Nayanaren und Virashaivas in den Sprachen Tamil und Kannada und im 15. Jahrhundert von dem Dichter Mira Bai aus Rajasthan in dem Dialekt Braj verfasst. Im 16. Jahrhundert gründete Chaitanya in Bengalen eine Sekte mit erotisch-mystischem Charakter, die stark vom tantrischen Buddhismus beeinflusst ist und die Vereinigung von Krishna und Radha in einer tantrischen Religiosität feiert. Chaitanja glaubte, dass Krishna und Radha in ihm wieder geboren seien und dass das Dorf Vrindaban, in dem Krishna aufwuchs, in Bengalen wieder erscheine. Die Schule der Gosvamins, der Schüler von Chaitanya, entwickelte eine Theologie der rituellen Inszenierung von Krishnas Leben.
Solche rituellen Dramen entwickelten sich während des 16. Jahrhunderts auch in der Umgebung des Dorfes Vrindaban und wurden von Hindidichtern vorgetragen. Der erste große mystische Hindidichter war Kabir, der angeblich muslimischer Abstammung gewesen sein soll. Er war stark vom Islam beeinflusst, insbesondere vom Sufismus. Seine Gedichte hinterfragen sowohl die kanonischen Dogmen des Hinduismus als auch des Islam. Sie preisen Rama und versprechen Erlösung durch das Rezitieren des heiligen Namens Rama. Sein Nachfolger war Tulsidas, der eine beliebte Hindiversion des Ramayana schrieb. Surdas, ein Zeitgenosse von Tulsi Das, verfasste Gedichte über das Leben Krishnas in Vrindaban, die die Grundlage der Ras lilas, der lokalen Inszenierungen des Mythos von Krishnas Kindheit, bildeten. Im Norden Indiens spielen diese bei der Verehrung Krishnas auch heute noch eine bedeutende Rolle.
Im 19. Jahrhundert wurden unter der Schirmherrschaft von Ramakrishna und Vivekananda und der Sekten Arya-Samaj und Brahmasamaj wichtige Reformen durchgeführt. Diese Reformbewegungen versuchten den traditionellen Hinduismus mit den sozialen Reformen und politischen Idealen der Gegenwart zu verbinden. Teil dieser Reformbewegungen waren auch die Führer nationaler Bewegungen, wie Sri Aurobindo Ghose und Mohandas Gandhi, die diese in politische und soziale Ziele umsetzten. Gandhi z. B. entwickelte aus der Grundregel vom Ahimsa oder dem „Nichtverletzen“ seine Lehre vom passiven Widerstand (siehe ziviler Ungehorsam). Sein Ziel war es, die Kaste der „Unberührbaren“ zu reformieren sowie die Unabhängigkeit Indiens zu erreichen. Bhimrau Ramji Ambedkar verhalf sowohl dem Mythos von den Brahmanen, die ihre Kaste verlassen hatten, als auch dem Mythos von der Ureinheit des Buddhismus und des Hinduismus zu neuem Leben, um den „Unberührbaren“ durch eine Neubekehrung zum Buddhismus ihre Selbstachtung finden zu lassen.
In jüngeren Zeiten wanderten zahlreiche selbst ernannte indische Religionslehrer nach Europa und in die Vereinigten Staaten aus, wo sie große Anhängerschaften fanden. Einige der religiösen Sekten, wie die von Bhaktivedanta gegründete Hare-Krishna-Bewegung, gehen angeblich auf den klassischen Hinduismus zurück. Trotz zahlreicher Einschränkungen der Religion, die die Modernisierung und Urbanisierung Indiens mit sich brachte, lebt der Hinduismus ungestört weiter. Die Mythen überdauern im hinduistischen Film, und die Übergangsriten leben nicht nur im Tempel, sondern auch im täglichen Leben weiter. Der Hinduismus, der für Indien während der jahrhundertelangen Fremdherrschaft und inneren Zerrissenheit eine wichtige Stütze war, wirkt somit weiterhin als eine lebendige Kraft.
Ein wichtiges Element der späteren Vedischen Religion ist die Kaste (portugiesisch casta; von lateinisch castus: rein, keusch), streng abgeschlossene Gesellschaftsschicht des indischen Gesellschaftssystems, in dem eine gesellschaftliche Hierarchie von Generation zu Generation weitergegeben wird und das so gut wie keine soziale Mobilität kennt. Das Wort Kaste wurde zuerst von den portugiesischen Kaufleuten des 16. Jahrhunderts gebraucht; es ist abgeleitet vom portugiesischen casta, das Familiengeschlecht, Herkunft oder Rasse bedeutet. Das entsprechende Wort im Sanskrit heisst jati. Der sanskritische Begriff varna bezeichnet eine Gruppe von jati oder das Kastensystem.
Irgendwann zwischen 200 v. Chr. und 100 n. Chr. wurde das Manu Smriti oder Manus Gesetzbuch geschrieben. In ihm schafften die priesterlichen Gesetzgeber die vier grossen erblichen Gruppen der Gesellschaft, die noch heute bestehen, und stellten ihre eigene Priesterklasse mit der Bezeichnung irdische Götter oder Brahmanen an die Spitze dieser Kastenordnung. Zweite in der Rangordnung waren die Krieger, die Kschatrija, und ihnen folgten die Waischia, die Bauern und Händler. Die vierte der ursprünglichen Kasten waren die Schudra, die Arbeiter, geboren, um Diener der anderen drei Kasten, besonders der Brahmanen, zu sein. Weit unter den Schudra – tatsächlich völlig ausserhalb der Gesellschaftsordnung und auf die Verrichtung der niedrigsten und unangenehmsten Dienste beschränkt – befanden sich die Kastenlosen, die Harijans oder Unberührbaren. Das waren die Drawida, die eingeborenen Einwohner Indiens, zu deren Kaste von Zeit zu Zeit die Parias oder Ausgestossenen hinzukamen, Menschen, die wegen religiöser oder sozialer Vergehen aus den Kasten ausgestossen wurden, in die sie geboren waren. So wie sie von den Priestern aufgestellt war, wurde die Kastenordnung Bestandteil der hinduistischen Religion und bezog damit ihre Legitimation aus dem Anspruch der Brahmanen auf göttliche Erleuchtung.
Die Merkmale einer indischen Kaste bestehen aus der starren, erblichen Zugehörigkeit zu der Kaste, in die man geboren wird, dem Brauch, nur Mitglieder der gleichen Kaste zu heiraten, Beschränkungen bei der Wahl des Berufs und bei persönlichen Kontakten mit Mitgliedern anderer Kasten und der Akzeptanz eines festen Platzes in der Gesellschaft durch jeden einzelnen. Das Kastensystem wurde durch die hinduistischen Vorstellungen von Samsara (Wiedergeburt) und Karma (Tat, Werk) auf Dauer gefestigt. Nach diesen Glaubensvorstellungen werden alle Menschen auf der Erde wiedergeboren, und zwar in die Kaste, in die sie nach ihrem vorherigen Leben gehören. Das bedeutet auch, dass ein jeder die Chance hat, in eine andere, höhere Kaste geboren zu werden, aber nur, wenn sie die Regeln ihrer Kaste in ihrem jetzigen Erdenleben befolgen.
Die vier ursprünglichen Kasten sind im Lauf vieler Jahrhunderte wieder und wieder unterteilt worden, so dass man inzwischen keine genaue Zahl mehr angeben kann. Schätzungen reichen von 2 000 bis zu 3 000 verschiedenen Kasten, die durch Gesetz der Brahmanen in ganz Indien errichtet wurden. Jede Region hat ihre eigenen besonderen Gruppen, künstlich abgegrenzt und durch Gewohnheit zementiert.